Skirennfahrer Broderick Thompson kommt bei hoher Geschwindigkeit ins Straucheln, stürzt, wird in die Luft katapultiert und prallt aus mehreren Metern Höhe auf die harte Piste. Retter fliegen den Kanadier ins Krankenhaus, dort versetzen ihn Ärzte kurz in ein künstliches Koma.
Der österreichische Chefcoach Marko Pfeifer sagt als Augenzeuge, der Unfall gehöre «zum Schlimmsten, was ich je gesehen habe». Fast einen Monat ist Thompsons Trainingscrash von Ende November in Beaver Creek inzwischen her, dem Sportler geht es wieder besser. Er trug am Unglückstag keinen Airbag.
Das wird es im kommenden Jahr nicht mehr geben. Der Weltverband Fis führt zur Saison 2024/25 das Tragen eines Spezial-Airbags unter dem Skianzug verpflichtend ein, für Frauen und Männer in Super-G und Abfahrt. Zur Begründung der neuen Regel sagte eine Fis-Sprecherin auf Anfrage, Airbags hätten sich «als wertvolle Maßnahme erwiesen, um die Sicherheit der Athleten bei Speed-Rennen zu erhöhen». Männer-Renndirektor Markus Waldner meinte, Thompsons Sturz wäre mit Airbag glimpflicher verlaufen.
Hilfe oder Gefahr?
Sind nun also alle happy über die Sicherheitsvorschrift der Fis ab der kommenden Saison? Mitnichten! Bei etlichen Fahrern und Betreuern überwiegen Unsicherheit und Unverständnis über die Entscheidung des Weltverbands. Viele finden die Spezialweste mit den aufblasbaren Luftkammern unpraktisch im Rennen. Manche zweifeln daran, dass der Airbag sie wirklich schützt. Einige fürchten, vom Hightech-Equipment gehe sogar eher eine Gefahr aus.
«Das ist wieder so ein typischer Fis-Schwachsinn!», schimpfte Wolfgang Maier, der Sportdirektor im Deutschen Skiverband (DSV), zuletzt und sprach von «Aktionismus». Ähnlich wie das plötzliche Verbot von Fluor-Wachsen, das seit diesem Winter für große Unsicherheit im Weltcup sorgt, könnte die Airbag-Pflicht im Chaos enden.
Fis löst Expertengruppe auf
Einer, der sich bei dem Thema auskennt, ist Karl-Heinz Waibel, der Bundestrainer für Wissenschaft und Technologie im DSV. Er war bis vor Kurzem Teil einer Fis-Expertengruppe, in der er zusammen mit anderen Funktionären und Ex-Sportlern wie Pernilla Wiberg oder Marco Büchel über den Airbag beriet. Die Gruppe sprach sich gegen eine Airbag-Pflicht aus. «Gegen schwere Rückenverletzungen braucht es keinen Airbag, da leistet der Rückenprotektor schon seit den 90er Jahren gute Arbeit», erläuterte Waibel im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Seiner Einschätzung nach könne der Airbag vielleicht gegen Prellungen schützen. «Aber kein Skirennfahrer jammert über Oberkörperprellungen.»
Er sei nicht grundsätzlich gegen den Airbag, unterstrich Waibel. Viel wichtiger seien aber Forschung und Entwicklung, wenn es darum geht, schwere Knieverletzungen zu verhindern, die größte Sorge im Skisport. Den Airbag nannte Waibel eine «Nebensächlichkeit». Die Fis ignorierte die Einschätzung der Experten – und löste die Gruppe jüngst still und heimlich auf.
Ist der Airbag also fast nutzlos? Oder noch gravierender: Ist es sogar gefährlich? In den vergangenen Jahren erlitten einige Athleten – etwa Österreichs Olympiasieger Matthias Mayer und der deutsche Abfahrer Manuel Schmid – auffallende Wirbelverletzungen bei Stürzen, in denen der Airbag auslöste. Die Hersteller weisen nach dpa-Informationen in offiziellen Schreiben an die Fis die Schuld für derartige Blessuren von sich.
Nur wenige Fahrer vertrauen dem Airbag
Doch das Misstrauen wuchs. Der deutsche Routinier Romed Baumann etwa fuhr sieben Jahre lang mit Airbag, nach der Verletzung von Teamkollege Schmid im Sommer 2021 legte er ihn wieder zur Seite. «Ich hatte dann kein gutes Gefühl mehr», erzählte Baumann. Im deutschen Alpin-Männer-Team nutzen aktuell nur noch die Youngster Luis Vogt und Jacob sowie Thomas Dreßen den Airbag – dabei ist davon auszugehen, dass dem Ex-Kitzbühel-Sieger Dreßen Anfang 2020 bei einem Rennsturz beide Schultern ausgekugelt wurden durch die Wucht des sich blitzschnell aufblasenden Airbags.
Auch Top-Stars wie der Norweger Aleksander Aamodt Kilde oder Dominik Paris aus Südtirol ziehen keinen Airbag an, wenn sie am Donnerstag die Abfahrt und am Freitag den Super-G (jeweils 11.30 Uhr) in Bormio auf einer der eisigsten, schwierigsten und gefährlichsten Pisten im Weltcup-Kalender bestreiten.
Und wer haftet künftig?
Zur neuen Saison aber müssen sich dann alle arrangieren. Daran werden auch die Bedenken und zum Teil rechtlichen Fragen kaum etwas ändern, die nach dpa-Informationen Nationen wie Deutschland, Österreich und die Schweiz an die Fis übermittelten. Wer beispielsweise haftet, wenn Sportler – gegen ihren Willen – im Rennen einen Airbag tragen und dieser eine Fehlfunktion aufweist? Was passiert, wenn ein Airbag fälschlicherweise auslöst und ein Athlet deshalb zu Sturz kommt? Die Fis hat darauf, wie zu hören ist, keine zufriedenstellenden Antworten geliefert.