Auch am Tag nach seinem Frustausbruch mit drastischen Worten konnte Karl Geiger den Ärger über seinen Innsbruck-Patzer nicht verbergen.
«Es ist echt eine bittere Pille, die man schlucken muss», sagte der Skispringer aus Oberstdorf rund 20 Stunden nach seinem wohl entscheidenden Fehler im Rennen um den goldenen Adler für den Sieger der Vierschanzentournee. Zwar war Geiger mit einer Nacht Abstand und nach einer Videoanalyse äußerlich wieder ruhig, doch von seinem gewohnten Auftreten als unbekümmerte Frohnatur war der Allgäuer noch weit entfernt.
Bei fast 14 Metern Abstand auf den führenden Routinier Kamil Stoch aus Polen weiß jeder im deutschen Team: Das Warten auf den ersten Tourneesieg seit Sven Hannawald 2002 wird aller Voraussicht nach weitergehen. «Er vergibt die Chancen für den Sieg definitiv», sagte Bundestrainer Stefan Horngacher nach Geigers 16. Platz auf der deutschen Schicksalsschanze am Bergisel. Der Tiroler gab sich keinen Illusionen hin: «Jetzt müsste schon ein Wunder geschehen.»
Dass es dazu kommt, glaubt Geiger nicht, der direkt nach dem wiederholten Stimmungskiller auf der komplizierten Schanze «das Kotzen» gekriegt hatte. «Den Blick auf die Gesamtwertung muss ich jetzt mal weglassen», sagte er.
Geiger will nach bewegten Wochen den Ruhetag vor dem großen Tournee-Finale in Bischofshofen am 6. Januar (16.45 Uhr/ZDF und Eurosport) auch wirklich als solchen nutzen und das Skispringen mal Skispringen sein lassen. «Ich werde ein bisschen Abstand zum Sport suchen», kündigte der 27-Jährige im Teamhotel in Lans bei Innsbruck an. «Irgendwann ist auch das System mal überladen.»
Dass das bei Geiger der Fall ist, verwundert nicht. Schließlich hat der Oberstdorfer seit Saisonbeginn im November so viel erlebt wie andere Skispringer in mehreren Jahren nicht. In Geigers bisherigem Winter-Drehbuch stehen bereits ein Skiflug-WM-Titel, die Geburt seiner Tochter Luisa kurz danach, eine Corona-Quarantäne und der Triumph beim Heimspiel am Oberstdorfer Schattenberg. Und beendet ist die Saison noch lange nicht. Mit der WM vor der Haustür in Bayern wartet noch ein ganz großes Highlight.
Auch deshalb hofft Horngacher, dass Geigers Frust nicht zu tief sitzt. «Wir dürfen uns auf keinen Fall von der Situation runterziehen lassen, sondern müssen konzentriert weiterarbeiten», sagte der Österreicher. Im sensiblen Skisprung-Sport können aus kleinen Rückschlägen schnell große Leistungsdellen werden.
Während seine Top-Athleten Geiger und Markus Eisenbichler, der im Gesamt-Klassement direkt hinter seinem Kumpel auf Rang fünf liegt, ziemlich deutlich machten, dass für sie bei der Tournee nur der Sieg zählt, appellierte Horngacher: «Wenn man bei der Vierschanzentournee einen Podestplatz macht, ist man auch ein sehr, sehr, sehr, sehr, sehr guter Skispringer. So müssen wir das jetzt sehen.» Der 51-Jährige hofft, dass ohne den ganz großen Druck die zuletzt fehlende Lockerheit bei seinen Sportlern zurückkommt.
Bei Geiger könnte zusätzlich die Familie dabei helfen. «Wir haben gestern ein bisschen geschrieben, ein Bild habe ich gekriegt. Das ist schon schön», sagte der Flug-Weltmeister und lächelte tatsächlich. Bei aller Enttäuschung gab sich der Gesamtweltcupzweite des vergangenen Jahres auch kämpferisch. «Es ist schon öfter vorgekommen, dass man mal durch den Schlamm waten muss und da werde ich jetzt auch durchmarschieren», kündigte er an.
Auf Rang drei und den Norweger Halvor Egner Granerud, der bei der ersten Österreich-Station ebenfalls eine herbe Niederlage erlebte, fehlen Geiger etwas mehr als zwei Meter. Vorjahressieger Dawid Kubacki und der überragende Stoch scheinen außer Reichweite. «Es tut mir leid für Karl und Halvor, aber das gehört zum Skispringen», sagte Stoch.
Auf dem Weg zu seinem dritten Tourneesieg kann sich der 33 Jahre alte dreifache Olympiasieger wohl nur noch selbst schlagen. Dabei war er nach einem positiven Corona-Test in seiner Mannschaft zu Beginn der Tournee schon kurzzeitig disqualifiziert gewesen – durfte dann wie seine Teamkollegen nach negativen Ergebnissen aber doch noch starten.