Der deutsche Verbandschef Friedhelm Julius Beucher fühlt sich schon an «chinesische Wundertüten aus meiner Kindheit» erinnert. Dass Gastgeber China bei seinen Winter-Paralympics wie aus dem Nichts alles dominiert, weckt neben Bewunderung auch Zweifel.
Die internationale Konkurrenz wie Skifahrerin Andrea Rothfuss staunt über das chinesische Erfolgsrezept. Der deutsche Chef de Mission Karl Quade hinterfragt indes die Klassen-Einstufung der Athletinnen und Athleten aus dem umstrittenen Ausrichter-Land.
«Bisher beschränkte sich das skifahrerische Können der Chinesen darauf, zur Schanze zu fahren, zu springen und zu landen», sagt Quade lachend: «Kurven fahren war nicht.» Doch bei den Spielen in Peking erfolgt eine nie da gewesene Leistungs-Explosion, die Rätsel aufgibt.
Neue chinesische Dominanz bei Paralympics
Nachdem sie sich schon bei Olympia gegenüber den Winterspielen davor von Rang 16 auf Platz drei der Nationenwertung vorgearbeitet hatten, dominieren die Chinesen die Spiele der Behindertensportler fast nach Belieben. Schon nach den ersten Wettkampftagen und einer Serie von Goldmedaillen hatten die Gastgeber im Medaillenspiegel einen riesengroßen Vorsprung. Vor Beginn der Spiele hatte China bei zwölf Para-Winterspielen eine einzige Medaille geholt: 2018 im Curling.
«Wir fragen uns alle, wo das plötzlich herkommt», sagt Rothfuss, die schon an ihrem fünften Spielen teilnimmt. «Aber ihr Erfolgsrezept können sie uns gerne mal nach Deutschland schicken. Das können wir gut gebrauchen», sagt die 32-Jährige. Beucher ergänzt lachend: «Jeden Tag kommt ein neues Wunder von ihnen auf die Piste.» Woher die Entwicklung wirklich kommt, sei «spekulativ».
Neue Trainer, harte Arbeit
Ansätze von Erklärungen gibt es viele. Seit der Vergabe der Spiele 2015 hat China gute Trainer eingestellt. Zudem zählt das Land rund 85 Millionen Behinderte, etwas mehr als Deutschland Einwohner hat. «Wenn man dann zielgerichtet aussucht und trainiert, ist es nicht verwunderlich, wenn man daraus auch Spitze entwickeln kann», sagt Beucher.
Zudem soll das Training eisenhart sein. «Ich habe gehört, sie trainieren sieben Tage die Wochen sechs Stunden lang», sagt Skifahrer Leander Kress: «Also ich würde das nicht schaffen. Wenn sie wirklich so hart trainieren, haben sie es auch verdient.» Für Biathlet Martin Fleig, Fahnenträger bei der Eröffnungsfeier, ist das «ein Teil des Geheimnisses. Der Rest? Ich weiß nicht.»
Fehlerhafte Klassifizierung?
Nur der Faktor Arbeit erklärt im professionalisierten Para-Sport nämlich nicht diesen enormen Leistungssprung. Chinas Athleten waren auch wegen der seit 2020 geltenden Corona-Ausreisesperre bei nahezu keinem internationalen Wettkampf gesichtet worden. Jetzt fahren sie der Konkurrenz auf der Piste wie in der Loipe um drei bis vier Sekunden davon.
Ein Ansatz könnte sein, dass sie eben wegen ihrer oft fehlenden Auftritte nicht richtig klassifiziert werden konnten. Im Wintersport erhalten die Starter einen Zeitfaktor, der auf dem Grad ihrer Behinderung resultiert. Und der speist sich aus Erfahrungswerten und Vorleistungen.
Hoher Erwartungsdruck
«Wenn man die Bilder vergleicht, kann man schon staunen, wie so etwas zustande kommt», sagt Quade. «Ich will nicht sagen, dass es nur die Klassifizierung ist. Dass sie mit guten Trainern sehr gute Arbeit geleistet haben, steht außer Frage. Dass dann auch mal jemand gewinnt, ist normal. Aber es kommen sicher noch andere Dinge hinzu», erklärt Quade.
Gemeint ist dabei auch der hohe Erwartungsdruck, der manche lähmt und andere antreibt. Als sie von den Erfolgen ihrer Kollegen gehört habe, habe sie sich «sehr gestresst» gefühlt, gab Langläuferin Hongqiong Yang zu: «Ich habe mich nachts im Bett hin und her gewälzt. Mein Herz schlug so schnell, dass es mir fast aus dem Hals sprang.» Am Ende gewann sie auf der Langstrecke. Mit satten 37 Sekunden Vorsprung.